Kirmes (D 1960)

Regie, Buch: Wolfgang Staudte

Produktion: Real-Film, Hamburg

Premiere: 2. Juli 1960

Unter diesem etwas irreführenden, unglücklichen Titel verbirgt sich keine nette Heile-Welt-Komödie, wie man vielleicht denken könnte, sondern ein hervorragender Film von Wolfgang Staudte, den man zu den wichtigsten Regisseuren des Nachkriegskinos zählt.

Ich kenne bislang nur die späteren „Tatort“-Episoden von ihm (meist gut, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt), sein historisch wichtiges Frühwerk wird nach und nach verfügbar. Dieser Film ist 2020 erstmals auf DVD erschienen, auf dem Label „Filmjuwelen“, das sich wieder mal um eine Wiederdeckung verdient gemacht hat.

Wie in einigen Filmen dieser Zeit geht es um die Aufarbeitung der NS-Zeit, ein Thema, das viele Deutsche in der Zeit nicht ansprach, zu frisch war es noch. Heile Welt war angesagt, Gebirge, saftige Wiesen, glückliche singende Menschen. Düstere Nazi-Dramen in schwarz-weiß im Kino? Nein, danke.

Auch dieser Film floppte damals an den Kinokassen, verschwand auch lange in der Versenkung. Wesentlich bekannter von Staudte ist „Die Mörder sind unter uns“ von 1946 – wohl auch durch den markanten Titel.

Hervorragend fotografiert, dicht und sprachlich auf höchstem Niveau geschrieben und hochkarätig mit Theaterschauspielern besetzt, erleben wir hier die fesselnde Geschichte einer Desertation im Zweiten Weltkrieg.

1959 findet in einem Dorf in der Eifel die alljährliche, titelgebende Kirmes statt. Die Feierlichkeiten werden getrübt, denn bei Bauarbeiten wird eine Leiche gefunden – ein Skelett, ein Stahlhelm, ein Gewehr. Offensichtlich ein Kriegsopfer.

Fast alle wollen es abhaken und zur Tagesordnung übergehen. Auch der Bürgermeister schaut düster aus der Wäsche. Nur die Mutter weiß, wer es ist – ihr Sohn Robert (Götz George). Und so erfahren wir in einer langen Rückblende die Geschichte Roberts.

Dieser war 1944 desertiert, weil er sich weigerte, auf Frauen und Kinder zu schießen. Er wollte sich in seinem Heimatdorf verstecken, um nicht als Fahnenflüchtiger und „Vaterlandsverräter“ gemäß der neusten Verordnung erschossen oder erhängt zu werden. Doch die Bevölkerung des Dorfes erweist sich als wenig hilfreich. Angst und Hurra-Patriotismus, dazu die geradezu groteske Propaganda-Dauerbeschallung, haben ihr Werk getan. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter Georg Hölchert (Wolfgang Reichmann) ist ihm auf den Fersen, bedroht auch seine Familie. Siehe da – den Mann kennen wir doch schon. Er ist der Bürgermeister im Jahr 1959. Als dann auch die Gestapo im Dorf anrückt, sieht Robert irgendwann keinen Ausweg mehr.

Zurück im Jetzt (1959) – das ganze Dorf ist daran interessiert, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Das Karussell dreht sich, die Kinder lachen.

Gerade das mit dem Bürgermeister dürfte vielen Deutschen anno 1960 schwer im Magen gelegen haben. Wie viele überzeugte 110-Prozent-Nazis haben später in der bundesdeutschen Politik Karriere gemacht, bis hin zum Bundeskanzler. Auch einzelne Schicksale wurden sicherlich in Familie und Dorfgemeinschaft wissentlich totgeschwiegen – die sprichwörtlichen Leichen im Keller. Der Film bohrte hier mit Genuss in deutschen Wunden.

Trotz des schweren Themas hat der Film aber auch genug Humor (auch schwarzen) und genug Romantik, um auch unterhaltsam zu sein. Die Balance gelingt hier gut.

Noch einige Worte zum Cast. Aus heutiger Sicht am bekanntesten ist sicherlich Götz George, der auch Jüngeren noch als „Schimanski“ ein Begriff sein dürfte. Hier ist er mit süßen 22 Jahren zu Beginn seiner Karriere zu bewundern. Er spielt den zusehends verzweifelten Soldaten überzeugend.

Die Französin Anette, die als Kriegsgefangene im Dorf lebt und als love interest dient, wird gespielt von der damals recht bekannten Juliette Mayniel. Sie spielte 1959 im klassischen französischen Horror-Krimi Les yeux sans visage (Augen ohne Gesicht) mit und in vielen anderen französischen Filmen der Zeit.

1973 spielte sie in – „Sie nannten ihn Plattfuß“ mit Bud Spencer. Das hab ich jetzt nicht kommen sehen. Dort verkörpert sie die Rolle der Maria. Das ist die nette schwarzhaarige Dame, die Bud zwischendurch mit Spaghetti im Futter hält.

Wolfgang Reichmann, der NSDAP-Ortsgruppenleiter Schrägstrich Bürgermeister spielt, kam mir auch bekannt vor – und siehe da: 2 Folgen „Derrick“. Er war generell in den 70ern und 80ern noch gut im TV-Geschäft und wirkte in vielen Serien und Filmen mit, und ist mit seiner imposanten Erscheinung auch auffällig.

Ein wichtiger Film. Handwerklich, technisch und schauspielerisch auf höchstem Niveau. Schön, dass er nicht dem Vergessen anheim gefallen ist.

DVD: Filmjuwelen